19. Sonntag nach Trinitatis - 10. Oktober 2021

Predigt zu Jes 38, 9-20

Letzte Woche habe ich in der Schule mit den Kindern die Geschichte von Mose und dem Dornbusch erzählt - Sie erinnern sich?

Mose war in den Bergen unterwegs, Vieh hüten - sieht einen Dornbusch in Flammen, aber nicht verbrennen. Und aus dem Feuer heraus spricht Gott zu ihm.

Er hat einen Auftrag für Mose, nämlich: geh zurück nach Ägypten, und hol dein Volk aus der Sklaverei. Naturgemäß hat Mose so einige Einwände, was den Schwierigkeitsgrad dieses Unternehmens angeht: wieso sollen die ausgerechnet mir folgen, der Pharao wird mich verhaften lassen, was sag ich denen denn, wer mich schickt …

Aber Gott wischt alle Einwände beiseite: Sag ihnen, ich bin der Gott deiner Vorväter - der Gott, der schon Abraham, Isaak und Jakob durch ihr Leben begleitet hat. Sag ihnen, Ich, Jahwe, habe dich geschickt. Sag ihnen, das ist mein Name: Jahwe - und das heißt: Ich bin. Ich bin da. Ich begleite dich, ich beschütze dich, ich helfe dir.

Am Ende der Stunde haben die Kinder dieses Arbeitsblatt ausgefüllt. Vier Flammen. In die Mitte haben sie geschrieben: Ich bin da - und in die Flammen; was das für Mose bedeutet. Ich bin da - ich begleite dich, ich beschütze dich, ich helfe dir.

Es gibt viele solcher Geschichten in der Bibel, in denen Menschen erfahren, dass und wie Gott für sie da ist. Und der Predigttext von heute erzählt auch so eine Geschichte - wir haben sie vorhin in der Lesung schon gehört. Auch wenn sie nicht ganz so deutlich erzählt wird wie die Geschichte von Mose.

Heute nämlich ist es die Geschichte von Hiskia, dem König in Jerusalem. Gläubig, mächtig, angesehen, reich und unangefochten. Kriegsherr, Verwaltungskünstler.

Manager seines Landes und seines Volkes. Ein Erfolgsmensch durch und durch.

Bis zu jenem Tag, als alles anders wird.

Denn zu der Zeit wurde Hiskia todkrank. Und der Prophet Jesaja kam zu ihm und sprach zu ihm: So spricht der Herr: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben. Da wandte Hiskia sein Angesicht zur Wand und betete zum Herrn und sprach: Gedenke doch, Herr, wie ich vor dir in Treue und ungeteilten Herzens gewandelt bin und habe getan, was dir gefallen hat. Und Hiskia weinte sehr.

Die Diagnose da - einmal ausgesprochen, steht sie im Raum und krempelt das ganze Leben um. Alles, was wichtig war, alles, wofür wir arbeiten, uns krummlegen - alles, dem wir unser Leben widmen - alles wird plötzlich unwichtig, nebensächlich.

Alle vermeintliche Macht schwindet angesichts des Todes - und zurück bleiben Angst und Tränen. Angst vor Sterben - Tränen um das, was hätte noch alles sein können und doch nicht mehr werden wird.

Und über allem das Gefühl, verraten worden zu sein. Alles Gutsein, alles Frommsein - nichts hat geholfen.

Und alles, was bleibt, ist die Totenklage:

In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. 11 Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den HERRN, ja, den HERRN im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. 12 Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; 13 bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. 14 Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! 15 Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat's getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. Herr, lass mich wieder genesen und leben!

Der Tod ist übermächtig - er lässt dem Leben keinen Raum mehr, nicht einmal mehr dem Rückblick auf das eigene Leben. Alles, was zählt, was noch Macht hat - ist der Moment. Der Lebensfaden ist abgeschnitten, bevor der Tod kommt. Der Lebensmut verloren, bevor die Krankheit die Kraft raubt.

Der Tod tritt ein, bevor das Herz aufgehört hat, zu schlagen.

Die Angst vor dem Tod tötet schneller als die Krankheit. Und Hiskia hat seinen letzten Kampf schon verloren, bevor die Schlacht beginnt.

Und am Ende versagt die Stimme und alle Worte verstummen. Übrig bleiben Schmerz und die Verzweiflung.

Und aus Gott, dem Ich bin da - wird Gott, Du hast mich verlassen.

Nicht nur Hiskia kennt solche Erfahrungen  - ich nehme mal an, wir alle kennen solche Momente. In denen wir nur noch einen Blick haben für das, was unser Leben auf den Kopf stellt, was uns die Luft abschneidet und den Kampfgeist raubt.

Zeiten, in denen Gott nicht da ist - sondern weit weg. Und sich hinter all dem Schmerz nur schwer oder gar nicht mehr finden lässt.

Das sind Zeiten, in denen unsere eigene Klage überhand nimmt, unser Leben übertönt.

Zeiten, in denen wir uns zur Wand drehen - versunken in unserem Schmerz und nicht mehr ansprechbar.

Zeiten, in denen wir selbst uns vorzeitig den Lebensfaden abschneiden. Einfach nur, weil wir keinen Ausweg mehr sehen und gefangen sind im Augenblick schwärzester Verzweiflung.

Das sind die Zeiten, von denen die Kinder in der vierten Flamme auf ihrem Arbeitsblatt erzählen. Dann da hinein haben sie Erlebnisse geschrieben, in denen Gott für sie da war - nicht für Mose, nicht für Hiskia. Sondern für sie.

Stunden, in denen Streit und Zank in der Familie übermächtig waren und die Beziehungsfäden zwischen den Geschwistern brüchig waren.

Zeiten, in denen der Hund gestorben ist und die Einsamkeit mit Händen greifbar wurde.

Der Tag, an dem die Mutter starb und sich das Leben für immer verändert hat.

Das sind die Zeiten, in denen die Kinder gespürt haben, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Denn die beste Freundin spendet Trost im Schmerz um den Hund.

Die Liebe in der Familie ist groß genug, um den Streit zu überwinden.

Der Tod hat nicht das letzte Wort - denn das Leben wird auch in der Trauer jeden Tag immer wieder neu geschenkt.

In dieser vierten Flamme stehen die Erlebnisse der Kinder: Ich bin da - das heißt: Gott begleitet mich, wenn es mal dunkel um mich ist. Er beschützt mich, wenn es mir schlecht geht. Er hilft mir, weil es Menschen gibt, die mich trösten.

Ich glaube - ich hoffe, jeder von uns hat solche Flammenerlebnisse. Dass Gott da ist, auch wenn wir uns verlassen fühlen. Dass wir ihn spüren, sehen und hören können in den Menschen, die uns umgeben, die sich um uns sorgen, uns Mut zusprechen, sich um uns kümmern. Die nicht zulassen, dass wir dem Leben den Rücken kehren, sondern uns immer wieder ansprechen - bis wir uns dem Leben wieder zuwenden.

Es gibt viele solcher Flammengeschichten - in der Bibel und im Leben.

Es ist die Geschichte von Mose, der sich nach Jahren im selbstgewählten Exil von Gott in seine Zukunft zurückrufen lässt und der dem Pharao mutig zuruft: Lass mein Volk ziehen.

Es ist die Geschichte von Hiskia, dessen Klage sich in Lob verwandelt, als er auch in der Verzweiflung nicht von Gott lässt und unverhoffte Heilung erfährt.

Es sind die Geschichten unserer Kinder, die an ihren Problemen wachsen und sich mit ihrem Vertrauen auf Gott an ihrer Seite ihren Lebensmut immer wieder zurückerobern.

Und es ist unsere Geschichte. Denn unser Leben hängt am seidenen Faden - aber Gott lässt ihn nicht abreißen. Und wenn wir unser Leben zu Ende gewebt haben - dann setzt sich Gott an den Webstuhl und webt über unser Ende hinaus weiter - mit einem Faden, den wir noch nicht sehen können - mit Farben, die unsere Lebensfarben überstrahlen.

Denn er hat sich unserer Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe - denn er wirft alle unsere Sünde hinter sich zurück. Er hat uns geholfen - darum können wir singen und spielen, solange wir leben im Hause des Herrn.

Amen.