Donnerstag, 14. Mai

„Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum

Still und verklärt wie im Traum.

Das was des Nachts elf Uhr zwei.

Und dann kam ich um vier

Morgens wieder vorbei.

Und da träumte noch immer das Tier.

Nun schlich ich mich leise - ich atmete kaum -

Gegen den Wind an den Baum,

und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.

Und das war aus Gips.“

So hat sich Ringelnatz getäuscht - und sich darauf auch gleich einen Reim gemacht. Ich täusche mich auch oft - vor allem nachts, wenn sich Licht und Schatten abwechseln. Da wird schon mal das Hemd am Bügel zu einer menschlichen Figur oder der Schatten, den die Türschwelle wirft, zu einer zusätzlichen Treppenstufe, die mich fast zum Stolpern bringt.

Das sind die harmlosen Täuschungen - die verschwinden mit dem Tageslicht.

Schwieriger ist es da schon, wenn wir uns in anderen Menschen täuschen - oder von ihnen aktiv getäuscht werden. Denn jede Beziehung beruht auf Vertrauen - und das lässt sich nicht so leicht wiederherstellen, wenn es einmal enttäuscht wurde.

So geht es Hiob - der sich Trost und Unterstützung in seinem Leid erhofft. Und dann doch von seinen Freunden enttäuscht ist. Von den Floskeln, die sie von sich geben. Von ihren Unzulänglichkeiten als Beistand in der Trauer. Letztlich enttäuscht, weil auch die Freunde nur Menschen sind und als solche eben nicht vollkommen.

Am Ende ist er auch von seinem Gott ent-täuscht - im positiven Sinn. Denn der entlarvt Hiobs Bild von ihm als Täuschung. Und konfrontiert ihn mit der Wirklichkeit. Ent-täuscht ihn - mit Gewinn. Denn am Ende führt gerade das dazu, dass Gott für Hiob lebendig bleibt - und ihn durch Leid und Leben hindurch trägt.

So wünsche ich mir meine Gottesbeziehung: als heilsame Ent-täuschung - und lebendige Wirklichkeit. Jeden Tag aufs Neue.

Stephanie Wegner