3. Sonntag nach Trinitatis - 20. Juni

Predigt zu Lk 15, 1-10

Ich habe in meinem Leben schon so einiges verloren:

Spielsachen, Kuscheltiere, Bankauszüge, Telefonnummern, meinen Ausweis oder meine Hausschlüssel (sehr beliebt). Manchmal auch den Weg beim Wandern. Und ganz besonders gern verlieren sich - und ich formuliere das absichtlich so, denn dafür bin nicht ich verantwortlich, sondern ein ganz spezielles schwarzes Loch in meiner Waschmaschine - ganz besonders gern verlieren sich die Socken meiner Familie. Nie meine - auch das eine eigenartige Konstante.

Aber ich nehme mal an, da bin ich nicht die Einzige - weder bei den Socken, noch sonst. Das geht uns allen so. Einiges findet sich wieder - anderes bleibt wie von Zauberhand verschwunden.

Schnuller gehören übrigens in eine ähnliche Spalte wie Socken - zumindest meiner Erfahrung nach.

 

Bei den meisten Sachen ist es nicht besonders schlimm, wenn sie verloren gehen. Ärgerlich, ja. Aber nicht dramatisch. Da lohnt sich die Suche oft nicht.

Anders ist es dann, wenn es an die eigene Existenz geht. Die Substanz. Wenn ich nicht nur den Hausschlüssel verliere, sondern den Schlüssel zu den Menschen, die mir nahestehen.  Wenn ich nicht nur den Ausweis verliere, sondern mich selbst in den Krisen und Problemen, die auf mich einstürmen.

Wenn ich nicht nur den Weg beim Wandern verliere, sondern komplett aus der Bahn geworfen werde.

Spätestens also dann, wenn  ich schafsköpfig in der Wüste meines Lebens herumirre und drohe, in meinem Leid verloren zu gehen. Dann hoffe ich, dass sich für irgendjemanden die Suche nach mir lohnt. Dass es da jemanden gibt, der sich die Mühe macht, mich wieder hervorzuholen, mir herauszuhelfen, wenn ich es alleine nicht schaffe. Der mich tragen kann, wenn meine Orientierung versagt.

 

Und mir den Weg zurück ins Leben zeigt.

Als unser Sohn gerade mal sechs Jahre und in der ersten Klasse war, ging er mir verloren. Er wollte auf den Schulhof, sich mit seinen Freunden treffen, Fußball spielen. Die Schule war gegenüber von unserer Wohnung, nur über die Straße, der Hof voller Kinder aus der Nachmittagsbetreuung. Er selber allen bekannt, auch den Erwachsenen.

Trotzdem war er verschwunden, als ich eine halbe Stunde später dazukam. Niemand konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben. Kein Rufen, kein Suchen hat geholfen.

Nach den schlimmsten 10 Minuten meines Lebens kam er putzmunter um die Ecke einer Seitenstraße - dort war er kurz bei einem Freund gewesen. Er wusste gar nicht, dass er verloren gegangen war.

Und doch war da jemand, der ihn gesucht hat.

Und doch ist da jemand, der uns sucht - auch, wenn wir vielleicht noch gar nicht wissen, dass wir verloren gehen. Weil uns die Probleme klein und unscheinbar erscheinen, nicht der Rede wert.

Der Hirte verliert ja auch nur ein Schaf, und nicht die ganze Herde.

Die Frau ist ebenfalls nicht dabei, ihre ganze Existenz zu verlieren. Ihr fehlt lediglich ein Groschen. Neun andere hat sie noch.

Der Verlust des einen ist also nicht so dramatisch, das Leben hängt nicht davon ab, dieses eine zu finden.

Der Hirte hat noch genügend Schafe, die übrig sind.

Die Frau hat ihr Auskommen, auch ohne den einen Groschen.

Aber dennoch ist das Eine, Kleine wichtig. Und wertvoll. So wertvoll, dass hinter der Suche alles andere zurücksteht.

Das beruhigt mich - denn das heißt: ich muss nicht so lange warten, bis ich keinen Ausweg mehr sehe. Ich muss nicht warten, bis mich die Verzweiflung übermannt. Ich bin wichtig genug, dass auch kleinste Teile meines Lebens, kleinste Ängste, kleinste Zweifel ernst genommen werden. Ich muss nicht einmal selbst etwas davon wissen oder auch nur ahnen.

Egal, wie unscheinbar, wie unwesentlich ich mir mit meinen Anfragen vorkomme -  ich bin es Gott wert, dass er mir nachläuft. Mich nicht einfach ziehen und unmerklich verschwinden lässt.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch: auch mir dürfen andere es wert sein. Auch ich darf mich schon im Kleinen um andere sorgen.

Wie Gott das mit uns im Kleinen tut.

Seine Suche nach uns steht am Anfang - so wie die Taufe am Anfang des Lebens steht.

Schon bevor wir verloren gehen können, macht er sich auf den Weg und kommt uns entgegen. Er trägt uns nicht sofort auf den Schultern. Er erspart uns auch nicht von vornherein jeden Irrweg und jede Schwierigkeit. Er hindert uns auch nicht daran, unseren eigenen Weg zu suchen und bewahrt uns nicht vor der Gefahr, uns zu verlaufen.

Aber er behält uns im Auge. Er weiß, wo er uns findet - und wenn es nötig ist, läuft er uns nach und holt uns zurück. Und erfüllt so sein Versprechen, dass er uns in der Taufe gibt: „du gehörst zu mir - und ich lasse dich nicht im Stich.“

Und wir als Eltern und als Paten sind Teil dieses Versprechens, sind  Teil dieser Suche. Denn wir sind der lebende Beweis dafür, dass Gott es ernst meint mit seiner Taufe.

Sie sind die, die  er uns zur Seite stellte - weil wir ihm wichtig sind.

Wir sind die, die er unseren Kinden an die Seite stellt - weil wie ihm wichtig sind.

Und sie sind uns wichtig - mit all ihren kleinen und großen Sorgen, ihren kleinen und großen Anfragen an das Leben.

Wir sind die, deren Aufgabe es ist, nachzulaufen ohne festzuhalten - und frei zu lassen, ohne aufzugeben. Im Auge zu behalten - und dennoch eigene Schritte ins Leben gehen zu lassen.

In der Taufe und bei unseren Kindern spüren wir selbst, dass das Kleine, das Eine wertvoll und wichtig ist. Und sich jede Suche danach lohnt - denn auch wir sind gefunden worden.

Amen.