Karfreitag - 15. April 2022

Karfreitag 2022

Auf der Suche nach einem zeitgenössischen Kreuz - so lautet die Überschrift eines Zeitungsartikels. Darunter abgebildet sind fünf Beispiele für ein solches Kreuz.

Das eine kleine blaue Kreuz rechts oben: ein aufgedrucktes Vaterunser am Längsbalken. Ästhetisch-beschauliche Bilder von links nach rechts. Ein leichtes Kreuz, die Wolken schon sonnenbeleuchtet. Die Last des Einzelschicksals schon erleichtert durch die Zahl der Vielen, durch die Öffnung des dunklen Tunnels am Ende.

Das Material: bedrucktes Alu. Schicksal ohne Tiefe. Leichtmetall. Ein er-tragbares Kreuz. Mit leichter Last. Nicht zu schwer. Gut händelbar.

Dann das Kreuz darunter. Eines mit Bewegung. Mit Dynamik. Zwei verschlungene Enden, die das Leiden einrahmen, es einfangen, festhalten. Doch das Ende ist absehbar, das Kreuz ist nach oben offen. Das Leiden verläuft sich - Ostern schon am Kreuz.

Die beiden anderen Kreuze sind sich ähnlich. Das eigene verwobene Leben in der Mitte, oft ohne Ausweg - doch es hängt an einem Zentrum. Wird getragen vom Kreuz als dem Ursprung des Lebens. Christus in mir - ich in Christus. Im Leben und im Sterben.

Alle sind sie zeitgenössisch - äußerlich, in der künstlerischen Gestaltung und inhaltlich.

Denn ich glaube, sie alle treffen einen Nerv unserer Zeit.

Einen, der sich nicht mit dem Leiden aufhalten möchte. Der alles für machbar hält, wenn man sich nur ausreichend bemüht. Und alles auf das eigene Ich als zentrale Größe bezieht.

In der letzten Woche gab es einen Leserbrief in der Wertheimer Zeitung. Er bezieht sich auf einen Beitrag zur Frage eines Öl- und Gasembargos gegen Russland. Der Leserbrief gibt Handlungsvorschläge für eine bessere, friedliche, gesunde Zukunft: kein Öl, kein Gas, keine Kohle mehr aus Russland. Kein Zweifeln, kein Zögern mehr in dieser Frage. Nur so verhindern wir den Fortgang des Krieges.

Dafür aber ein Tempolimit - um Öl zu sparen. Und uns unabhängig von Russland zu machen. Außerdem - so ganz nebenbei - muss auch die Impfpflicht her, damit wir im Herbst Leben retten.

Der Tenor des Briefes: wir haben es in der Hand. Verhalten wir uns so, dann tun wir das moralische Richtige. Und vermeiden, dass wir schuldig werden.

Das Kreuz ist nach oben offen, das Material ist leicht. Die Hoffnung scheint schon durch die Wolken hindurch, wir müssen nur den Weg aus dem verschlungenen Lebensknäuel heraus finden.

Dann können wir unsere Hände in Unschuld waschen und der Welt zurufen: Seht ihr zu.

Aber wie wir gehört haben, endet die Geschichte da nicht. Und auch unsere Verantwortung endet nicht. Denn all das Reinwaschen durch rituelles Handeln ist ohne Erfolg: der Unschuldige wird gegeißelt und den Mördern überantwortet.

Wir entkommen unserer Verantwortung nicht. Stattdessen stehen wir mitten im Volk und rufen: sein Blut komme über uns und unsere Kinder.

Es gibt kein Leben ohne Schuld.

Bezahlen wir Putin für sein Gas, bezahlen wir seinen Krieg, bezahlen weiterhin die Tötung unschuldiger Frauen und Kinder, sind mitverantwortlich für die unzähligen Verwundeten auf den Schlachtfaldern des Donbass und die unnötigen Tode junger hoffnungvoller Menschen.

Stoppen wir die Lieferung, erzeugen wir unsere hausgemachte Knappheit, legen Teile unserer Industrie lahm, darunter auch die Pharmaproduzenten. Lieferketten weltweit sind betroffen, Menschen verlieren ihre Arbeit, in Russland, bei uns, weltweit. Der Hunger wird wachsen, Medikamente werden knapp, Menschen werden sterben.

Das Konzept des Leserbriefes geht nicht auf. Alleine das Gute zu wollen, lässt es noch nicht entstehen. Wir tragen Verantwortung in dieser Welt und in diesem Krieg. Aber die geht weiter als bis zu unserem Heizungsthermostat. Und wir können sie nicht wahrnehmen, ohne Schuld auf uns zu laden. Es gibt keinen Weg der Selbstrechtfertigung, keine Ent-Schuldigung. Nicht durchs Nichtstun - aber auch nicht durch Handeln.

Es reicht nicht, ein Alukreuz zu tragen und auf Sonnenschein zu hoffen.

Alles, was wir tun können, ist, uns nach unserem Gewissen zu entscheiden. Im Wissen, dass es die eine richtige Entscheidung nicht gibt. Und mit der Verantwortung auch ja zur sagen zur Schuldübernahme. Jeden Tag nach bestem Wissen und Gewissen von neuem tapfer zu sündigen.

In der Hoffnung, dass es stimmt, was das letzte große Bildkreuz erzählt:

Ein Kreuz aus bedruckten Metallplatten. Das Leiden der Welt zwischen all ihrer Schönheit. In der Mitte der Gekreuzigte. Er steht im Zentrum - von beidem. Schönheit und Leid. Von der Welt und all ihrem Leben und Sterben.

Auf ihn läuft alles hin - von ihm geht alles aus.

Das Leiden hat ein Gesicht. Einen Bezugspunkt. Eine Hoffnung.

Dass am Ende der eine Satz genügt:

Vater, vergib ihnen. Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Amen.